Der Tod ist nebenan

 

Diese Tatsache ist kaum jemals mehr spürbar, als wenn ein nahestehender Mensch plötzlich und unerwartet stirbt. Die Corona-Pandemie hat uns das wieder einmal vor Augen geführt. Der Tod ist nebenan. Es ist November, der Monat für die Verstorbenen. Es ist November, die Natur wird kahl und trüb. Wir werden durch diese Dinge an unsere Vergänglichkeit erinnert. Was sollen wir tun?

„Tot ist, wer vergessen ist“, habe ich mal auf einer Pate gelesen. Wir haben in unserer Kirche eine wunderbare Tradition, die uns dabei hilft, unsere Verstorbenen nie zu vergessen und uns unseren eigenen unausweichlichen Tod bewusst zu machen, das Beten für die Toten. In jeder Messe wird für die Verstorbenen im Hochgebet gebetet. Ausdrücklich werden Messen für die Verstorbenen bestellt und von der versammelten Gemeinde gefeiert. Höchster Moment der Erinnerung an diese Verstorbenen ist für mich das Verlesen der Namen der Verstorbenen. Sie werden dadurch nicht nur Verwandte und Angehörige unter vielen, sondern sie werden konkrete Menschen, die wir kannten, die einzigartig und unverwechselbar waren. Sie waren ein Bruder, eine Schwester, ein Vater, eine Mutter usw. mit Namen und mit Gesicht. Auch wenn manchmal das Verlesen der Namen manchen „unnötig“ vorkommt, weil Gott sie ohnehin kennt, ist dies gerade das, was sie zu dem macht, was sie waren und sind. Solange wir sie beim Namen nennen, vergessen wir sie nicht. Solange wir sie beim Namen nennen, machen wir uns bewusst, dass auch wir früher oder später so sein werden, wie sie nach ihrem irdischen Leben geworden sind. November ist ein Nachdenk-Monat.

Der Tod nebenan in der Frage der Euthanasie- und Suizidbeihilfe-Debatte. Mancher Christ weiß nicht, welche Meinung er in dieser Debatte zu vertreten hat. Es ist ein komplexes, heikles Thema. Die Kirche hat ihre Lehre darüber – die Unantastbarkeit des Lebens von seinem Ursprung bis zu seinem Ende. Aber wie verhält es sich mit dem Gebot der Nächstenliebe gerade dort, wo fortgeschrittenes Alter belastet oder keine Heilung zu erwarten ist, sondern nur Qual für den Kranken? Was ist mit der begleitenden Angst, mit schlechtem Gewissen als „Mörder“ durchs Leben gehen zu müssen? Was passiert mit dem Missbrauch des Rechts auf den Tod? Er möchte noch nicht sterben, aber sein Zustand ist eine Last für die Angehörigen. Sie können nicht mehr zuschauen, wie er dahinvegetiert. Was tun? Oder wie steht es mit der hin und wieder erlebten Wende in manchen Terminal Situationen? Man glaubte, es sei mit dem Leben bald vorbei, aber dann wendet sich das Blatt und er genest? Es stellt sich wohl auch die Frage: Wer bestimmt, welches Alter fortgeschritten ist oder welche Krankheit unabwendbar ist? Ein Indianer-Volk hat in früher Vergangenheit aus Mangel an Wissen über Zahlenverhältnisse (sie haben nicht weiter als zwanzig zählen können und haben alles, was darüber war, als endlos bezeichnet) die „Alten“ umgebracht, um Platz für die anderen zu schaffen. Willkür und Missgunst waren die Konsequenzen, bis sie herausfanden, dass ihrem Volk Weisheit durch Erfahrung fehlte. Viele Fragen warten auf unsere Antwort.

Der Christ ist ein Mensch, der Gott vertraut und an seine Allmacht glaubt. Aber der Christ ist auch einer, der seine Vernunft recht gebraucht. Entscheidungen des Lebens gehören ins Gebet eingeschlossen. Gottes Fügung uns seine Entscheidung können nur im Gebet erfragt werden. Aber wichtiger als die Frage nach dem Tod des anderen ist die Beschäftigung mit Gedanken über meinen eigenen, immer näher rückenden Tod. Wie lebe ich jetzt? Wie angenehm ist mein Leben für die Menschen um mich herum? Wie erleichtere ich die Not und das Leben anderer? Was wird Gottes Urteil über mich sein? Der Monat November hilft uns jedes Jahr, diesen Fragen nachzugehen.

 

Ihr Pfarrer Nikolas O. Abazie